Künstliche Intelligenz im Recruiting - Fluch oder Segen?

Die Candidate Experience steht für den Gesamteindruck, den ein potenzieller Bewerber im Rahmen des Rekrutierungsprozesses von einem Arbeitgeber hat. Es handelt sich um das individuelle Erleben des Kandidaten, welches sich aus einer Vielzahl von direkten und indirekten Touchpoints zusammensetzt.

Vertrauen in der Candidate Experience

Das Vertrauen spielt eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, Künstliche Intelligenz in die Candidate Experience zu integrieren. Denn ähnlich wie in zwischenmenschlichen Beziehungen bildet Vertrauen die Grundlage für die Verbindung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber.

Im ersten Teil der Candidate Experience zählen vor allem die Touchpoints, die auf eine klare Kommunikation des Arbeitgebers und technisch-organisatorische Aspekte zurückzuführen sind, wie z.B. die Benutzerfreundlichkeit der Systeme oder die Eingangsbestätigung der Bewerbung. In der späteren Kennenlernphase steht das Agieren der Unternehmensvertreter im Vordergrund, wo das Vertrauen des Bewerbers durch ihr Auftreten sowie ihre Kommunikation geprägt wird. 

Das Vertrauen in den verschiedenen Phasen der Candidate Experience
  • Prägungsphase: In dieser Phase geht es darum, wie die Menschen das Unternehmen wahrnehmen, bevor sie es als potenziellen Arbeitgeber in Betracht ziehen. Dies kann über bewusste wie auch unbewusste Eindrücke der (Employer) Brand geschehen und hat somit keinen festen Startpunkt. In dieser Phase findet noch keine beeinflussbare Vertrauensbildung statt, da sich der Kandidat noch nicht für die Bewerbung bei dem Unternehmen entschieden hat.
  • Bewerbungsphase: Diese Phase startet mit der Entscheidung, sich bei einem Unternehmen zu bewerben, beginnend mit der "Orientierung & Jobrecherche". Hierbei liegt der Fokus des Arbeitgebers darauf, sich attraktiv zu vermarkten und bei den Kandidaten einen positiven, überzeugenden Eindruck zu hinterlassen und alle relevanten Informationen zu liefern.
    Ist der Jobsuchende überzeugt, geht er zum nächsten Schritt "der Bewerbung" über. Hier kann das Vertrauen beispielsweise durch ein klares Bewerbungsverfahren sowie schnellen Rückmeldungen aufgebaut werden.
  • Auswahlphase: Spätestens hier treten die Bewerber in den direkten Kontakt mit dem Unternehmen. Den Kandidaten wird ein erster Einblick in das Unternehmen gewährt, wobei zahlreiche Touchpoints entstehen. In dieser Phase kann das Vertrauen durch einen persönlichen und wertschätzenden Umgang mit dem Kandidaten vertieft werden. An dieser Stelle ist es besonders relevant Stellenzu- oder -absagen personalisiert zu kommunizieren, um das bereits aufgebaute Vertrauen nicht zu beschädigen.
  • Onboardingphase: In dieser Phase ist es von großer Bedeutung, dem Bewerber einen reibungslosen Start in das Unternehmen zu ermöglichen. Die Bewerber haben bereits eine bestimmte Erwartungshaltung aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen im Bewerbungsprozess, und in dieser Phase treffen diese Erwartungen auf die Realität. 

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Künstliche Intelligenz in der Candidate Experience

Es gibt eine Vielzahl an KI-Tools, die sich je nach Zielgruppe unterscheiden. In diesem Blogbeitrag werden nur jene enger beleuchtet, welche Unternehmen implementieren können. In der Prägungs-/Bewerbungsphase können Unternehmen ihre offenen Stellen auf Portalen wie LinkedIn oder Indeed platzieren, wo diese mithilfe von Algorithmen potenziellen Bewerbern vorgeschlagen werden. Des Weiteren könnten in dieser Phase Stellenanzeigen mithilfe von "Text Analytics" verbessert werden, Chatbots zur verbesserten Informationsvermittlung oder KI-basierten Bewerbungsassistenten angewendet werden. In der Auswahlphase können Unternehmen Matching Tools implementieren, welche geeignete Bewerber für die Stelle herausfiltern. Hier reicht die Komplexität von simplen Tools wie der Schlüsselwortsuche über psychologischen Persönlichkeitstest bis zu KIs, welche die Sprache, Stimme und Mimik analysieren. 

 

Einfluss der KI auf das Vertrauen

Die Vertrauensbildung vom Kandidaten zum Unternehmen verändert sich wie in der Grafik sichtbar zwischen Bewerbungs- und Auswahlphase. Zuerst wird es technisch/organisatorische Faktoren beeinflusst und später durch die persönliche Interaktion zwischen Unternehmensvertreter und Bewerber. Basierend auf diesen Erkenntnissen kann angenommen werden, dass KI in Bezug auf die persönliche Interaktion zwischen Unternehmensvertretern und Bewerbern keinen Mehrwert bietet. Daher ist es verständlich, dass der Beruf des Recruiters weiterhin existiert und Auswahlgespräche noch nicht vollständig von KI übernommen wurden. Dieser Aspekt sollte bei zukünftigen Entwicklungen und Implementierungen nicht vergessen werden.

Wo könnte KI sinnvoll und wertstiftend implementiert werden?

  • Cultural Fit auf der Website (Self-Assessment): Die besten Mitarbeitenden sind nicht zwingend die qualifiziertesten, sondern die, die am besten mit den Unternehmenszielen/werten harmonisieren und somit einen wichtigen Teil zur Unternehmenskultur beitragen. Diese Sichtweise teilen die Bewerber auch, denn dem "Person Organisation Fit" wird meistens eine größere Bedeutung beigemessen, als dem "Person- Job-Fit". Ester beschreibt, dass eine Einheit einem das bietet was man braucht und/oder ähnliche grundlegende Eigenschaften teilen. Somit besteht der PO fit aus dem komplementären wie auch dem supplementären fit. Diesen fit bereits vor der Bewerbung festzustellen ist schwierig, dem Bewerber bleiben nur wenig Möglichkeiten wie die Karriereseite, Social Media Kanäle oder Erfahrungen der Mitarbeitenden. Dieser fit darf nicht unterschätzt werden, da sich 3/4 der Kandidaten nicht bei einem Unternehmen bewerben würden, mit welchem sie sich nicht identifizieren können. Somit ist es von äußerster Relevanz den potenziellen Bewerbern die richtigen Informationen zu vermitteln. 

Lösung: Eine Möglichkeit bieten sogenannte Matching Algorithmen. Dies sind Tests, welche auf der Karriereseite von Unternehmen implementiert werden können um die Identifikation mit dem Unternehmen und das Erkennen des PO-Fits bzw. „Cultural- Fit“ greifbarerer zu machen. Vor der Implementierung analysieren Unternehmen die eigene Kultur und können teilweise zusätzlich ein "Sollprofil" erstellen, um beide Teile des PO-fits abzudecken. Einmal implementiert können Jobinteressierte diesen Test durchführen und erhalten am Ende eine Auswertung dieser Skalen inwiefern sich ihre Werte mit denen der Firma decken.

Vertrauen:  Wenn ein hoher Cultural-Fit besteht, steigt die Motivation für eine Bewerbung in der Regel. Sollten jedoch Unstimmigkeiten in einigen Bereichen auftreten, können diese im weiteren Verlauf des Bewerbungsgesprächs angesprochen werden, um bereits zu Beginn mögliche Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Aus diesen Gründen kann angenommen werden, dass ein Tool zur Feststellung eines hohen Cultural-Fits zu einer Verbesserung der Candidate Experience beitragen könnte und somit auch zum Vertrauensaufbau beitragen würde. 

 

  • Jobtitel & Stellenanzeigen (Augmented Writing/ChatGPT): Dieser Touchpoint ist ein wesentlicher Entscheidungsfaktor bei der Bewerbung und darf entsprechend nicht unterschätzt  werden. Die Stellenausschreibungen werden selten als gut bewertet, was vor allem auf mangelnde stellenspezifische Informationen, Rechtschreib- und Grammatikfehler zurückzuführen ist. Des Weiteren stellt (ungewollte) "gendered language" ein großes Problem dar, da vor allem Frauen negativ auf die Geschlechtstypizität reagieren. Durch diese Fehler mindert sich die Anzahl und Diversität der Bewerber, da sich 75% der Bewerber nicht auf eine mangelnde Stellenausschreibung bewerben würden.

Lösung: Künstliche Intelligenz könnte entgegenwirken, indem dem Recruiter Verbesserungsvorschläge zu bestehenden Texten gemacht werden, wie auch komplett neue generiert werden könnten. Durch den Einsatz der KI kann sichergestellt werden, dass sich die Anzahl der Bewerbungen erhöhen wird. Des Weiteren werden verstärkt passende Bewerber motiviert, da diese ihre Fähigkeiten konkreter mit der Ausschreibung abgleichen können.

Einfluss des Vertrauens: Durch den Einsatz von KI würde an dieser Stelle ein Vertrauenszuwachs entstehen, da die Aussagen des Arbeitgebers klarer werden und somit unter anderem Zeit für Nachfragen gespart werden kann.

 

  • Kommunikation auf der Karriereseite (Chatbot): Wir sind es im beruflichen wie auch im privaten gewohnt durch Kurznachrichten zu kommunizieren. Durch die Gewohnheit, Antworten in sekundenschnelle zu bekommen, haben sich die Menschen an Kommunikation in Echtzeit gewöhnt. Diese Erwartungshaltung hat sich in andere Teilbereiche des Lebens übertragen, wie auch auf die akzeptierte Wartezeit im Recruiting.

Lösung: Durch die Implementierung eines Chatbots auf der Karriereseite können Bewerber lange Wartezeiten vermeiden und mithilfe von KI Antworten in Echtzeit erhalten. Zusätzlich können die Bots den Bewerbungsprozess optimieren, indem sie Terminvereinbarungen vereinfachen und somit Zeit sparen und den Recruiter entlasten.

Einfluss des Vertrauens: Solange die Chatbots zur Eigenbeantwortung des Bewerbers genutzt werden, schafft der Bot durch die Klarheit/Zeitersparnisse ein Vertrauenswachstum. Sobald jedoch eine echte Interaktion mit einem Menschen erwartet wird (wie bspw. bei einem Bewerbungsgespräch), werden technische/prozessuale Aspekte weniger relevant und von einem Nutzen sollte abgesehen werden. Des Weiteren gilt zu beachten, dass ein Chatbot die zwischenmenschliche Kommunikation nicht vollkommen ersetzten kann, da es ihm oft an Humor und Empathie fehlt.

 

  • Smoother Start beim Onboarding: Nach einem erfolgreichen Bewerbungsprozess erwartet der Kandidat einen reibungslosen Start in den neuen Beruf. Dies beinhaltet neben der sozialen und fachlichen Integration in die neuen Abteilung ebenso administrative und organisatorische Aspekte. Hier mangelt es oft an Automatisierungen und Aufgaben müssen von den Personalabteilungen manuell bearbeitet werden. Erlebt der Bewerber bereits einen holprigen Start, kann sich dies negativ auf seine Verweildauer in dem Unternehmen auswirken.

Lösung: KI kann viele manuelle, administrative Aufgaben übernehmen, wie das Ausfüllen von Formularen, die Prüfung von Dokumenten oder die Verwaltung von Zugriffen. Darüber hinaus kann KI personalisierte Onboardingerfahrungen gewähren, indem neuen Mitarbeitenden personalisierte Schulungspläne oder  E-Learning Tools bereit gestellt werden.Darüber hinaus besteht auch hier erneut die Möglichkeit, Chatbots zur Beantwortung von Fragen einzusetzen.

Einfluss des Vertrauens: Im Onboarding-Prozess erwarten Bewerber, dass ihre Erwartungen aus der bisherigen Candidate Journey erfüllt werden. Künstliche Intelligenz kann dabei helfen, solange sie nicht wichtige menschlichen Interaktionen ersetzt. Wenn jedoch administrative Aufgaben von KI übernommen werden, können Personalverantwortliche entlastet und die Fehleranfälligkeit minimiert werden. Dadurch können Bewerbern Ärgernisse wie verzögerte Kommunikation oder fehlende Zugänge erspart bleiben.

 

Fazit:

Chancen von KI Anwendungen im Recruiting:

  • Bessere Ressourcennutzung: Durch den Einsatz von KI können Ressourcen effizienter genutzt werden, da repetitive Aufgaben automatisiert werden und sich Mitarbeitende auf komplexere Aufgaben konzentrieren können.

  • Effizienzsteigerung: Automatisierte Prozesse ermöglichen eine schnellere und effizientere Bewerberauswahl.
  • Reduzierung von menschlichen Fehlern & objektiviere Entscheidungen: KI kann einen wertvollen Beitrag leisten, um menschliche Fehler bei der Auswahl von Bewerbern zu minimieren, vorausgesetzt, dass diese Fehler nicht in den Trainingsdaten vorhanden sind.
  • Globale Talentsuche: KI ermöglicht eine weitreichende Suche nach Talenten über geografische Grenzen hinweg, indem sie potenzielle Kandidaten auf globalen Plattformen identifiziert.

  • Zeit- und Kostenersparnis: Automatisierte Prozesse reduzieren den Zeit- und Kostenaufwand für die Bewerberauswahl.
  • Skalierbarkeit & Verarbeitung großer Datenmengen: Die Anwendung von KI im Recruiting ermöglicht eine Skalierbarkeit, um mit großen Mengen von Bewerbungen umzugehen. Dies ist für allem für große (wachsende) Unternehmen von großer Bedeutung.
  • Kontinuierliche Optimierung: Künstliche Intelligenz hat die Fähigkeit, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln und anzupassen, um die Effizienz und Qualität im Recruiting stetig zu verbessern.

Risiken von KI Anwendungen im Recruiting:

  • Diskrimierung bei Auswahlverfahren: Künstliche Intelligenzen sind nur so gut und präzise wie die Daten anhand derer sie lernen. Sind in ihnen bereits systematische Fehler enthalten, werden diese von der KI übernommen. 
  • Abhängigkeit von Datenqualität: KI im Recruiting ist nur so gut wie die Qualität der zugrunde liegenden Daten. Unsaubere oder unvollständige Daten können zu fehlerhaften Entscheidungen führen.
  • Verlust der Menschlichkeit: Menschliche Aspekte ein entscheidender Faktor für das Vertrauen der Bewerber. Daher ist es bei der Integration von KI wichtig, sicherzustellen, dass diese menschlichen Elemente erhalten bleiben und nur geeignete Teilbereiche durch KI ersetzt werden sollten.
  • Unzureichende Berücksichtigung von Soft Skills: KI-Algorithmen können Schwierigkeiten haben, Aspekte wie Soft Skills und emotionale Intelligenz angemessen zu bewerten.
  • Ethische Grundsätze: Der Einsatz künstlicher Intelligenz im Recruiting kann ethische Bedenken hervorrufen, insbesondere in Bezug auf die Wahrung der Privatsphäre von Bewerbern. Es besteht die potenzielle Gefahr, dass KI-Systeme, wenn sie nicht angemessen überwacht und reguliert werden, Entscheidungen treffen, die als unethisch oder unmoralisch betrachtet werden könnten. Diese Bedenken betonen die Notwendigkeit einer sorgfältigen Bewertung und Kontrolle der Algorithmen, um sicherzustellen, dass sie faire, transparente und diskriminierungsfreie Ergebnisse liefern.

Die Anwendung von Künstlicher Intelligenz bietet viele Chancen für einen Einsatz im Recruiting, jedoch dürfen dabei die genannten Aspekte nicht außer Acht gelassen werden - in diesem Sinne: Let's automate the right parts of your Candidate Journey!


Quellen: Adler, L. J., & Fares, Y. (2020), Athanas & Wald (2014), Born & Taris (2010), Cable, D. M., & Judge, T. A. (1996), Esch et al. (2015), Kristof, A. L. (1996), O’Reilly, C. A., Chatman, J., & Caldwell, D. F. (1991), Powell (1991) Rynes, Bretz & Gerhart (1991), softgarden (2018), Upadhyay & Khandelwal, (2018), Verhoeven (2016)

 

Autorin: Jule Witt